My Souvenir
Sommernacht, Gletschergrün, Morgenrot, Alpenrose, Lindenblust, Erntegold - alles Farben,
die das Künstlerduo Paul Le Grand und Donminik Stauch aus einer alten Vedute
herausdestilliert hat. Oder so ähnlich. Die Benennung der Farben stammt direkt
aus dem Heine-Versandkatalog.
Im Moment sieht die Kunst im öffentlichen Raum allerdings mehr rot,
Verzeihung, hagebuttenrot aus. Die Alpenrose musste der Hagebutte weichen, und die
Lindenblust wurde durch Tannengrün ersetzt.
Offiziell tönt das so (Projektbeschreibung): "Sechs Farben stehen zur Verfügung, die
so ausgewählt sind, dass die in jeder Kombination interessant und spannungsvoll
zueinander passen. Denn in ihrer Farbigkeit knüpfen sie an die Tradition der
bis Anfang 20. Jahrhundert weit verbreiteten Veduten, die - als Vorläufer der
späteren Postkarte - Stadt und Landschaft wahrheitlich getreu darstellten."
Diese Vorlagefläggli darf der zukünftige Tourist nach Lust und Laune mit den vorgegebenen sechs Farben einfärben: | |
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Alles klar. Der Tourist kann per Internet-Wahl seine Lieblingskombination
an Farben einreichen (natürlich nur, wenn er brav Adresse und email angibt,
ist ja Kunst für den Tourismus). Die meistgewählten Farben werden alle zwei Monate
gehisst, wobei die beliebtesten Farben regelmässig von den Künstlern, oder genauer
von den Marktforschern, ersetzt werden. Dabei soll das Interesse wieder
gesteigert werden; von Ende Dezember bis
März 2008 haben ganze 100 Personen abgestimmt, sprich ihre Adresse hinterlassen.
Ich fasse zusammen: Wenn ich mir meine ureigene Thun-Verdute
abphotographieren will, dann muss ich erst zwei Monate lang im Internet
zwischen Sommernacht und Hagebutte wählen und hoffen,
dass nicht irgendein Depp die Morgenröte vorzieht.
Schön. Adressen-Requirierung, staatlich finanziert mit Fr. 30'000 von der Stadt Thun
und als Kunst im öffentlichen Raum verkauft.
Auch die Idee, Kunst zu demokratisieren, hinterlässt bei mir ein eher fahles
Gefühl. Kunst hat doch eigentlich die Aufgabe, neue Ideen und Sichtweisen zu
vermitteln und anzuregen. Wählt man per Befragung die populärste Darstellung einer Idee, dann
muss man sich wie in demokratischen Systemen üblich, dem Willen des Durchschnitts,
unterwerfen. Nun ist es aber gerade ureigene Eigenschaft von Kunst, die
inspirieren soll, nicht das mittelmässige, bereits durchgekaute möglichst
massentauglich wieder zu geben.
Und dann wäre da noch die Idee an sich. Was wollen uns die Künstler in den Mund
legen? Denn die "künstlerische Verantwortung" wird hier an den an Thun touristisch
Interesserten delegiert.
Unten sehen wir eine Touristin, welche hocherfreut das hagebuttisierende Farbenspiel
im Spannungsfeld mit der urbanen Betonwüste als Andenken für Zuhause ablichtet:
Ich versuche mich mal in freiem Analysieren im Namen zeitkritischer Touristen.
Sechs Flaggen. Sechs mögliche Farben. Gehiesst. Rot.
Moment mal: Sechs Ringe, sechs verschiedene Farben, eine Flagge. Ah, Olympia. Nein. Sind ja nur fünf Ringe und fünf Farben: Blau, Schwarz, Rot, Gelb und Grün. Auf der olympischen Flagge symbolisieren die profan benannten Farben in ihrer ringlichen Verschlungenheit die Verbundenheit der teilneh-menden Sportler. |
Ahhh, jetzt versteh ich's. Der kollektiv-touristische Wille hat sich für
eine unverhüllte Kritik an China, an der Olympiade,
ja sogar an Chinas Tibetpolitik entschieden. Alle Flaggen sind in einheitshagebuttenrot
getränkt. Keine fünf Olympiafarben und keine daneben friedlich
wehende Tibetfahne. Stattdessen kommunistisches Einheitsrot, künstlerisch
durchbrochen durch die Verweigerung des Profanrotes. Die Kritik ist
hagebuttenfarben. Wer will da noch das olympische Feuer on tour ausblasen,
wenn der Thuner Wind so schön kritisch weht?
Moment, das ist ja viel genialer als ich bisher dachte. Ähnlich wie beim Da Vinci
Code muss man die Zeichen nur zu deuten wissen. Thun - zwischen den Achsenmächten
(vgl. Jubeltext rechts) -
auch heute. Diesmal sind es nicht Deutschland und Italien, welche als Verbündete
die Welt erobern wollen; es ist China, welches gerne mal an sog. Schurkenstaaten wie den Sudan
Waffen liefert. Und schon sind wir beim internationalen Terrorismus. Klar das die
zeitkritische Aussage sich eher diskret manifestiert. Wir wollen schliesslich keinen
zweiten Karrikaturenstreit. So wichtig ist Kunst auch wieder nicht, dass es sich
lohnen würde, einen Anschlag der islamistischen Fundamentalisten auf das
Riesenrad beim Thunfest zu riskieren.
Und hier schliesst sich der Kreis auch wiederum schön, ist doch Terrorismus nicht
nur vom Wortklang her nahe am Tourismus. Man denke da an die wild
photographierend einfallenden Japaner, welche vor ihrer lebenslang
angesparten Europareise monatelang die Farben für die Thuner Fläggli
gewählt haben. Ähnlich digitalen Kamikazepiloten
auf dem Bahnhofplatz. Da geht wirklich nur Tourismus-Verantwortlichen und
Terroristen das Herz auf, vielleicht noch der Gruppierung "Thun Tourismus" - eine
Zelle voller Schläfer?
Ich muss wohl meine Meinung revidieren: Ganz schön mutig, diese Thuner!
Ich seh schon die Schlagzeile im Thuner Propogandaorgan, f.k.a. Thuner Tagblatt:
H.-U. von Allmen für den Friedensnobelpreis nominiert!
Wir - die Thuner - wir sind bekanntlich stur. Wir kriegen ein Stadion gebaut, auch wenn der Verein dazu bald fehlt. Dann können wir doch auch furchtlos zur touristischen Durchschnitts-Überzeugung stehen und die olympischen Trivialfarben ihre Verbundenheitssymbolik mit der zu Tibet zu ergänzen:
Somit wäre obige Idee zu Ende gedacht.
Ich könnte mir auch eine surrealistische Kritik an einer Gesellschaft denken, die keine Bedenken verspürt, Kunst dem Marketing zu überlassen: